An der nordöstlichen Grenze Griechenlands zur Türkei bildet der Fluss Evros, türkisch Meriç, bulgarisch Maritsa, in weiten Teilen die Außengrenze zur EU. Auf einem ca. 15 km langen Abschnitt zwischen den griechischen Orten Kastanies und Nea Vyssa, vor der türkischen Großstadt Edirne verläuft die griechisch-türkische Grenze östlich des Flusses an Land.1 Bis 2010 war diese Landesgrenze die wichtigste Route für Menschen ohne Visum – 2009 flüchteten 47.000 Menschen auf diesem Weg nach Europa.2
Geschichtlicher Hintergrund
Vor Istanbul war die türkische Stadt Edirne, nahe der heutigen Grenze zu Griechenland die Hauptstadt des Osmanischen Reiches und somit ein wichtiger Knotenpunkt für Kultur und Wirtschaft. In der Grenzregion begegneten sich Völker, Waren und Informationen wurden ausgetauscht. Dabei entstanden auch Konflikte oder Kriege.3 Um den Transport, Handel, Reisen, auch Feldzüge zu ermöglichen, spielte der Fluss Evros / Meriç eine Schlüsselrolle: als wichtigste Mobilitätsachse und Wasserstraße. Yeşim Tabak beschreibt den Fluss Meriç während des Osmanischen Reiches als „Ort der verbindenden Kräfte (...), Brücke zwischen Orient und Okzident“4
Teilweise existiert dieser Aspekt auch heute noch – Bürger:innen aus der Türkei überqueren die Grenze tagtäglich, um am Grenzort Kastanies auszugehen, Griech:innen fahren nach Edirne um einkaufen zu gehen.5
Bau des Zauns und Auswirkungen
Im August 2010 schreibt Athen ein Bauprojekt aus – einen zehn Kilometer langen Zaun, der verhindern soll, dass Menschen in die EU flüchten können.6 2012 ist der Zaun mithilfe von EU-Geldern fertiggestellt: zu diesem Zeitpunkt 12,5 km lang und 3,5 Meter hoch. Beton, Stahl und Natodraht grenzen jetzt Griechenland von der Türkei ab.7 Die griechische Grenzschutzpolizei überwacht mit Unterstützung von der EU-Agentur für Grenz-und Küstenschutzwache Frontex das Gebiet. Frontex unterhält 2021 das größte Kontingent an Beamt:innen in Griechenland.8 Schlagartig verfielfacht sich die Zahl der Menschen, die über die weitaus gefährlichere Mittelmeerroute fliehen. Erst kürzlich, am 14.06.2023 kam es im Mittelmeer erneut zum Untergang eines überladenen Fischerboots.9 Auf dem Weg von Lybien nach Italien kenterte ein Boot mit ca. 750 Personen, 104 Menschen überlebten.10 Gleichzeitig riskieren seit dem Bau des Zauns tausende Menschen ihr Leben, um nördlich und südlich des Zauns über den Fluss Evros in die EU zu gelangen. Die Gefahr zu ertrinken ist groß.11 Zudem häufen sich Pushbacks und Menschenrechtsverletzungen entlang der Grenze. Pushbacks sind rechtswidrige Zurückweisungen von Geflüchteten und Migrant:innen an den EU-Außengrenzen, obwohl sie die EU bereits erreicht hatten. Dadurch wird ihnen die Möglichkeit verwehrt, einen Asylantrag zu stellen. Diese Vorgehensweise verstößt gegen das Völkerrecht und die EU-Grundrechtscharta.12 Migrant:innen, die es über die Grenze schaffen, bringt das griechische Militär in das nahegelegene Camp Fylakia. Die Taz und Amnesty International berichten von katastrophalen Zuständen, 2018 mussten sich etwa 95 Menschen den Platz einer Zelle, ca. einem Quadratmeter teilen.13 In hygenisch prekären Zuständen breiten sich Krankheiten aus.14 Die Menschen in Fylakia müssen monatelang ohne Perspektive auf die Bearbeitung ihres Asylantrags warten.
Anfang März 2020 kam es zu einer Ballung von Ereignissen. Am 27.2.2020 öffnete die Türkei die Grenze zu Griechenland, um politischen Druck auf die EU auszuüben. Tausende Migrant:innen und Geflüchtete wurden zu einem Punkt in der Nähe des Grenzzauns bei Kastanies getrieben, mit dem Versprechen einer offenen Route nach Europa. Daraufhin schickte die griechische Regierung Polizei und Militär in die Region und setzte ihr Asylsystem aus – 30 Tage lang war es nicht möglich, einen Asylantrag zu stellen.15 Am 2. März eskalierte nach tagelangen Spannungen die Gewalt an der Grenze. Es gab Berichte über Schießereien und ein Todesopfer, Muhammad Al-Arab, in der Nähe des Flusses. Einen Tag später besuchte ein Ausschuss von EU-Beamt:innen, darunter die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, die Region. Sie gaben eine Erklärung ab, in der von der Leyen Griechenland als das “Schutzschild” Europas lobte.16 Am nächsten Tag wurde eine weitere Person, Muhammad Gulzar, pakistanischer Staatsbürger, der zuvor in Griechenland gelebt hatte, erschossen.17 In Zusammenarbeit mit den investigativen Journalismus-Plattformen Lighthouse Reports und Bellingcat sammelt die Recherche-Agentur Forensic Architecture Videos und Bilder des Vorfalls um den Tag zu rekonstruieren. Zahlreiche Menschen wurden verletzt, sieben davon schwer. Tausende Menschen wurden tagelang unter unmenschlichen Bedingungen an der Grenze festgehalten. Nach der Analyse von Forensic Architecture ist es wahrscheinlich, dass die Schüsse von der griechischen Seite der Grenze abgefeuert wurden. Die Spiegel-Recherche “Europa schießt scharf” bestätigt diese Annahme.18
Dieser Fall ist kein Einzelfall: Am 7. Juli 2022 kam Akram Abdulkadir ums Leben, nachdem griechischer Milizen ihm Gewalt zusetzten. Sein Bruder Hassan Abdulkadir berichtet, wie Akram Abdukadir im Fahrzeug griechischer Milizen starb, ohne dass sie Hilfestellung leisteten.19 Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich am 14. Juli 2022, als eine Gruppe von 50 Menschen auf der Flucht 12 Tage lang auf einer Insel im Evros ohne Schutz und Zugang zu sauberem Trinkwasser festgehalten wurde.20 Als Reaktion auf die Grenzöffnung 2020 treibt die griechische Regierung den Ausbau des Zauns weiter voran. In den griechischen Lokalmedien preist Mitsotakis den Zaun als Vorreiter-Projekt.21 Die Regierung des konservativen Premierministers Mitsotakis beschließt den Ausbau des Zauns. Das 14,9 Mio. EUR teure Projekt wird aus EU-Mitteln, insbesondere aus dem Fond für innere Sicherheit finanziert. Im Frühjahr 2021 wird der Grenzzaun um weitere 27 Kilometer verlängert.22 Der bereits bestehende Grenzzaun zwischen Kastanies und Nea Vyssa wurde von 3,5 auf fünf Meter erhöht. Inzwischen ist das Gebiet um den Zaun herum eine militärische Sperrzone. Moderne Kamerasysteme, Wachtürme und ein großes Aufgebot an griechischer Polizei und Grenzschutzbeamten von Frontex überwachen das Gebiet. Der Zugang ist verboten. Somit haben auch NGO‘s und Journalist:innen keinen Zugang, um humanitäre Hilfe oder Berichterstattung zu leisten. 23 "Die Region am Fluss Evros ist wie eine Blackbox", schreibt Verena Schälter in der Tagesschau. 24 Wie Border Violence Monitoring Network, Pro Asyl, und Alarm Phone Aegean Archive, dokumentieren, werden gleichzeitig fast täglich Pushbacks am und im Fluss verübt. Migrant:innen werden zurück in türkische Gewässer gedrängt, oder auf den Inseln des Flusses ohne Lebensmittel, Unterschlupf oder sauberes Trinkwasser festgehalten.25
Aktueller Stand
Am 18.6.2023 veröffentlicht Proasyl ein Video, das zeigt, wie maskierte Männer einen gefesselte Person zurück in türkische Gewässer zurückzwingen.26 Beweise für schwere Menschenrechtsverletzungen werden von Frontex regelmäßg ignoriert, wie zum Beispiel die unbeantworteten Forderungen von Amnesty international 2020.27 Trotzdem gibt die Europäische Union weiterhin Unterstützungserklärungen ab und stellt der Grenzanlage Milliardenbeträge zur Verfügung.28 Am 21.1.2023 veröffentlicht dpa, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex zusätzlich zu den 1.800 Grenzschutzbeamten in Griechenland weitere 400 einsetzen wird.29
Aktuell (Stand Juli 2023) diskutieren die EU-Innenminister:inen über eine Verschärfung des Asylrechts und den Vorschlag, Prüfverfahren für bestimmte Menschen auf der Flucht direkt an den EU-Außengrenzen durchzuführen, unter haftähnlichen Bedingungen.30 Während EU-Bürger:innen problemlos die Grenze passieren können, müssen andere beim Versuch unter lebensunwürdigen Bedingungen ausharren oder mit dem Leben bezahlen. Der Zaun an der griechisch-türkischen Landesgrenze reiht sich zudem in den Trend ein, dass sich die EU zunehmend mit Zäunen abschirmt31 und Maßnahmen verschärft - Stichwort Festung Europa.32